Günter L. Huber, Universität Tübingen
Die themenbestimmenden Konzepte im Titel dieses Workshops - Alltag, Alltagsbewußtsein,
Handlungsorientierung - signalisieren für den Außenstehenden
eine Konzentration der sportwissenschaftlichen pädagogischen Forschung
auf die subjektive Weltsicht der am Sportunterricht Beteiligten. Zu den
Inhalten dieser subjektiven Orientierungen kann ich mich nicht äußern,
da ich im Bereich von Sport und Sportunterricht nie eigene Forschung durchgeführt
habe. Die methodologischen und methodischen Probleme subjektzentrierter
Forschung sind aber über alle Besonderheiten sozialwissenschaftlicher
Inhaltsbereiche hinweg die gleichen. Auf eines dieser Probleme möchte
ich hier näher eingehen, da es für pädagogische Forschung
besondere Bedeutsamkeit hat: Wie steht es mit der Generalisierbarkeit der
Befunde subjektzentrierter Forschung? Wie weit können wir allgemeine
Orientierung für pädgogisches Handeln aus den Ergebnissen der
Forschung über subjektive Handlungsorientierung von Schülern/innen
ableiten?
Wenn ein 17-jähriger Schüler in einem offenen Interview über
den Schulsport äußert, dies sei ein Fach wie jedes andere, d.h.
eine "Routine-Pflichtveranstaltung" (Volkamer, 1996, S. 13),
wie geht man dann mit dieser Aussage um? Dazu wäre sehr viel auszuführen,
aber für die weiteren Überlegungen setzen wir einfach einmal
voraus, daß der methodische Zugang zum subjektiven Erleben dieses
Schülers geeignet war (vgl. Huber & Mandl, 1994) und die so erschlossene
subjektive Perspektive auch Gültigkeit beanspruchen kann (vgl. Lechler,
1994; Wahl, 1994).
Wenn wir diese Aussage verallgemeinern, dann heißt das, wir schließen
von einem Einzelfall auf alle - ja worauf denn? Auf alle 17-jährigen
Schüler, vielleicht auch Schülerinnen? Oder auf alle Schüler
und Schülerinnen, unabhängig vom Alter - oder vielleicht nur
im Gymnasium? Dürfen wir auf andere Gemeinden, Bundesländer,
Staaten verallgemeinern? Nun haben wir im ausgewählten Beispiel nicht
nur Daten von einem Schüler, sondern von 30 Schülerinnen und
Schülern, also von 30 "Fällen". Das Problem bei qualitativ-interpretativen
Studien ist aber, daß man bei den wenigen Fällen, die wegen
des methodischen Aufwands analysiert werden können, nicht genau weiß,
wie weit sie auch für andere Fälle repräsentativ sind. Zumindest
wird dies in vielen Studien nicht genau herausgearbeitet, so daß
man kritisch einwenden kann, jeder Fall sei nur für sich selbst typisch
(Stake, 1988). Natürlich kann auch der ungewöhnliche, extreme
Einzelfall sehr informativ sein, weil er gleichsam die Folie liefert, auf
der dann die normalen, durchschnittlichen Fälle besser zu verstehen
sind - aber dazu müßten wir erst einmal wissen, was die Norm
und was die Abweichung davon ist.
Man könnte nun einwenden, daß das Generalisierungsproblem
bei subjektzentrierter, qualitativer Forschung nur quantitativ schwieriger,
qualitativ aber gleichartig mit den Problemen der Verallgemeinerung von
Befunden quantitativer Untersuchungen sei. Oder einfacher: Wir können
30 offene Interviews führen und analysieren, mit finanziellem und
personellem Aufwand vielleicht auch 60 - aber wir können keine Zufallsstichprobe
von 300 oder 600 für die Bezugsgruppe repräsentativer Probanden
ziehen wie bei einer Studie mit einem hochstrukturierten Fragebogen. Natürlich
könnte man auch versuchen, die relativ wenigen Interviewpartner/innen
nach Zufall auszuwählen. In beiden Fällen stünde man dann,
so könnte man annehmen, vor dem sogenannten Induktionsproblem: Das
Induktionsproblem besteht darin, ein Verfahren zu finden, mit dessen Hilfe
die induktive Wahrscheinlichkeit einer Hypothese aufgrund des vorliegenden
Beobachtungsmaterials bestimmt werden kann. Natürlich wissen wir,
daß bei diesem Verfahren nie eine zweifelsfreie Generalisierung möglich
ist, wohl aber eine Generalisierung, deren Irrtumswahrscheinlichkeit wir
einschätzen und bei praktischen Folgerungen berücksichtigen können.
Müssen wir also bei interpretativen Methoden einfach mit etwas mehr
Irrtumswahrscheinlichkeit leben bzw. unverhältnismäßig
mehr Aufwand als bei sogenannten objektiven Methoden betreiben, um diese
Wahrscheinlichkeit zu reduzieren?
Diese Position wird zwar immer wieder vertreten, trotzdem ist sie ebenso
irrig wie wenig hilfreich. In unseren Forschungsansätzen geht es gar
nicht um Überprüfung, Bestätigung, Falsifikation theoretischer
Aussagen auf der Grundlage empirischer Aussagen, es geht gar nicht darum
herauszufinden, ob theoretische Sätze in zutreffenden Prognosen beobachtbarer
Ereignisse vorkommen. Ganz im Gegenteil: Mit der Fokussierung auf die subjektive
Perspektive anderer Menschen wollen wir aus deren Aussagen oder Handlungen
(den "beobachtbaren Ereignissen") die (subjektiven) Hypothesen
oder (subjektiv-)impliziten Theorien durch Interpretation rekonstruieren,
an denen diese anderen sich bei ihren Handlungen orientieren. Wir wollen
also keine Hypothesen oder Theorien bestätigen oder widerlegen, sondern
wir wollen zunächst einmal Hypothesen oder Theorien generieren. Im
allgemeinen wollen wir aber nicht nur die subjektive Theorie einer einzelnen
Person oder eine bunte Aneinanderreihung subjektiver Theorien mehrerer
Personen erstellen.
Gerade im pädagogischen Feld möchten wir dann natürlich
gerne wissen, wie speziell bzw. wie verallgemeinerungsfähig diese
Rekonstruktionen sind und ob wir darauf unsere eigenen Handlungskonstruktionen
für andere Fälle gründen können. Leider bleibt die
Verantwortung für entsprechende Entscheidungen größtenteils
den Lesern/innen von Fallanalysen überlassen - und die können
aus ihrer subjektiven Perpektive die Generalisierbarkeit ebenso unter-
wie überschätzen (Stake, 1988).
Die Leser/innen, besonders wenn es Lehrer/innen mit spezifischen Unterrichtsfragen
sind, beschäftigen sich in der Regel mit erziehungswissenschaftlicher
Literatur, weil sie an der Beantwortung ihrer Fragen interessiert sind.
Verallgemeinerungen aus den beschriebenen und interpretierten Fällen
erscheinen ihnen als einfache Regeln trivial; sie erscheinen vielleicht
als sprachlich nicht einmal besonders gut, recht kompliziert formulierte
Verallgemeinerungen von Zusammenhängen, die man vorher auch schon
zu wissen glaubte. Versucht man aber, komplexe Handlungsanweisungen vorzuschlagen,
werden diese häufig als nicht praktikabel beurteilt, entweder weil
zu viele vorlaufende Bedingungen zu berücksichtigen sind, oder weil
zu viele zusätzliche Anweisungen zu befolgen sind, um erst einmal
die pädagogische Situation herzustellen, für die eine Handlungsempfehlung
Gültigkeit beansprucht und in der sie sich als wirksam erwiesen hat
(Doyle & Ponder, 1977; Herrmann, 1979).
Da ist es sehr viel motivierender, sich unmittelbar an der genauen Beschreibung
eines Falls zu orientieren. Eine gute Falldarstellung konfrontiert mit
eigenen praktischen Problemen oder scheint von vergleichbaren Problemen
auszugehen. Entsprechend gro sind die Erwartungen an die Lösungshinweise,
die an den Beispielfällen entwickelt werden.
In dieser Praxis- und Erlebnisnähe liegt aber die Gefahr: Die Darstellungen werden wenig reflektierend, sondern vom Interesse am Rezept ausgehend analysiert; die Leser/innen analysieren nicht die genauen Bedingungen der Situation, sondern fühlen sich ermutigt, Befunde und Empfehlungen von einem oder einigen dargestellten Fällen ohne Versuch der Generalisierung direkt auf ihren eigenen "Fall" zu übertragen. Eine weitere Gefahr liegt darin, daß sie bei dieser Übertragung vom einen auf den anderen Fall statt kritische Randbedingungen zu analysieren einfach Stereotype bilden (z.B. Stereotyp der schichtspezifischen Häufung von Verhaltensstörungen). Die Fallorientierung wird einerseits als hilfreich und sinnvoll erlebt, kann aber andererseits zu Fehlanpassungen führen, weil die Bedeutsamkeit der Empfehlungen nicht hinreichend analysiert werden kann. Es besteht dabei die Gefahr, da Lehrer/innen illusionäre Wirksamkeitsüberzeugungen bezüglich der beschriebenen Maßnahmen aufbauen, dann aber, wenn sie in der eigenen Klasse damit scheitern, die Ursachen ihres Mierfolgs bei sich selbst suchen.
Wenn induktive Verallgemeinerungsversuche die Fragestellung interpretativ-qualitativer
Forschung verfehlen, transduktive Übertragungsversuche die Bedingungen,
unter denen Antworten gefunden wurden -- was kann man dann noch tun, um
die Generalisierbarkeit zu fördern? Ansätze dazu sollten wir
nicht von der Methodologie der quantitativen Absicherung von Hypothesen
auszuleihen versuchen, sondern aus der Logik interpretativer Ansätze
entwickeln. Vier wichtige Empfehlungen erscheinen dafür beachtenswert.
(1) Dichte Beschreibung als Strategie der Darstellung
Wenn schon die generalisierende Übertragung der Befunde interpretativer
Forschung auf besondere pädagogische Situationen wesentlich von den
Rezipienten der Forschungsergebnisse geleistet werden muß, dann sollte
wenigstens die Darstellung der Untersuchung und ihrer Befunde die Übertragbarkeit
unterstützen. Der/die Leser/in sollte in die Lage versetzt werden,
"an den eingefangenen Erfahrungen stellvertretend teilzuhaben"
(Denzin, 1989, S. 83), damit er/sie die eigenen Erfahrungen ganz natürlich
auf die berichteten Erfahrungen verallgemeinern kann (Stake, 1978).
Die geeignete Strategie dazu stellt nach Denzin (1989) die "dichte
Beschreibung" dar. Im Unterschied zu einem glatten, distanzierten,
neutralen Bericht soll die dichte Beschreibung Erfahrungen in ihrem originalen
Kontext vermitteln:
Sie präsentiert Detail, Kontext, Emotion und die Netze sozialer
Beziehungen, die Menschen miteinander verbinden. Dichte Beschreibung löst
Emotionalität und Selbst-Gefühle aus. Sie bringt Geschichte in
die Erfahrung. Sie begründet die Bedeutsamkeit einer Erfahrung oder
einer Sequenz von Ereignissen für die Person oder Personen im Mittelpunkt.
In dichten Beschreibungen hört man die Stimmen, Gefühle, Aktionen
und Bedeutungen der interagierenden Individuen (Denzin, 1989, S. 83).
Bei den Lesern/innen soll der Eindruck der Wahrhaftigkeit entstehen, sie
sollen beim Lesen den Eindruck gewinnen, sie selbst seien bei den beschriebenen
Ereignissen anwesend. Denzin (1989) gibt zahlreiche Beispiele gelungener
dichter Beschreibungen, denen er weniger gelungene, "dünne"
Beschreibungen gegenüberstellt. In einer tabellarischen Darstellung
gibt er eine Übersicht über Typen dichter Beschreibung und die
Formen in denen sie auftreten können. Dabei warnt er auch vor Formen,
die den Zweck, Teilhabe am Geschehen zu bewirken, eher verhindern als fördern.
Dazu rechnet Denzin (1989) die Form der "aufdringlichen" Beschreibung,
die Abstraktionen und theoretische Reflektionen des/der Forscher/in unter
die Beschreibungen mischt und so eine externe, abgehobene Stimme, quasi
aus dem "Off" aufdrängt anstatt die Stimmen der Akteure
hörbar zu machen. Weiter sollten unvollständige Beschreibungen,
in denen Elemente dichter Beschreibung und glatter Berichte bzw. theoretischer
Interpretation gemischt sind, sowie geglättete Berichte vermieden
werden.
Gerade wenn wir darauf abzielen, Alltagsbewußtsein und Alltagshandeln
zu erfassen und für andere zugänglich zu machen, erscheint die
dichte Beschreibung als besonders geeignetes Stilmittel der Darstellung.
Allerdings muß sie durch adäquate Interpretation bzw. Anregung
zu selbständiger Analyse ergänzt werden, wenn dadurch nicht wieder
die Gefahr vorschneller Transduktion (s.o.) verstärkt werden soll.
(2) Fallorientierte Forschungsstrategie
Nach Yin (1989) kommt es bei Fallstudien -- wenn sie den Status einer besonderen
Forschungsstrategie beanspruchen wollen -- darauf an,
Es kann durchaus interessant und legitim sein, sich auf nur einen einzigen Fall zu konzentrieren, wenn darin ein kritisches Phänomen zugänglich ist. Im Beispiel des 17-jährigen Schülers bei Volkamer (1996) besteht dieses Phänomen in konträren Orientierungen der gleichen Person im Kontext von Schulsport und Vereinssport. Aus der Analyse dieses kritischen Falles können wir einerseits die subjektive Sporttheorie der befragten Person rekonstruieren, andererseits zumindest verallgemeinerbare Hypothesen über die Wirkung spezifischer Kontextbedingungen gewinnen, die uns die Richtung für weitere Untersuchungen weisen. Yin (1989) hebt weiter auf die Bedeutung des Extremfalls oder des einzigartigen Falls sowie des aufklärenden Falls ab. Weniger die Dokumentation von Extremfällen stehen in der erziehungswissenschaftlichen Forschung im Vordergrund, sondern vielmehr ihre Kontrastfunktion: Sie lassen die im "glatten" Funktionieren der verbreiteten Normalfälle nur schwer zu analysierenden Zusammenhänge wichtiger Bedingungen deutlicher hervortreten. Aufklärende Fälle schließlich sind jene, zu denen bisher Forschung keinen Zugang gefunden hat, auch wenn sie vielleicht gar nicht so selten sind. Die detaillierte Analyse einer "Wehrsport"-Gruppe aus der Perspektive der Mitglieder wäre ein Fall dieser Art.
(3) Strategie der Replikation
Der Grundansatz interpretativer Generierung von Alltagstheorien aus den
Erfahrungen und Berichten der alltäglich Handelnden ist sehr einfach:
Man vergleicht ständig jeden Hinweis in jedem Bericht mit jedem anderen
verfügbaren. Dabei stellt man sich immer wieder zwei generelle Fragen
(Glaser, 1992): Worum geht es für die Leute eigentlich und auf welche
Kategorie verweist ein bestimmtes Ereignis? Vergleichen
zwischen
subjektiven Berichten aber setzt voraus, daß man erstens über
mehrere solcher Berichte verfügt und daß diese zweitens überhaupt
vergleichbar sind.
Damit kommen wir wieder auf die Strategie der Fallanalyse zurück,
diesmal aber auf den Ansatz multipler oder komparativer Fallstudien. Wir
haben schon festgestellt, daß pragmatische wie theoretische Gründe
die Verbesserung der Generalisierbarkeit von Forschungsbefunden durch Ziehen
einer "repräsentativen" Stichprobe ausschließen. Welcher
Logik können wir dann folgen, wenn wir zum Zwecke "ständigen
Vergleichens" die Zahl verfügbarer Fälle erhöhen wollen?
Yin (1989) verweist uns auf die Analogie zum experimentellen Paradigma
empirischer Forschung und seiner Replikationslogik, wobei er allerdings
in seiner Darstellung das Ziel interpretativer Forschung, aus den Daten
Hypothesen zu generieren oder (subjektive) Theorien zu rekonstruieren,
aus den Augen verliert. Trotzdem erscheint der Hinweis grundsätzlich
bedenkenswert.
Yin (1989) empfiehlt, die begrenzte Zahl analysierbarer Einzelfälle
sorgfältig auszuwählen und dabei zwei Strategien zu kombinieren:
Diese beiden Strategien schließen sich also nicht aus, sondern
ergänzen sich wechselseitig. Allerdings können wir im Unterschied
zur Planung von Experimenten die Auswahl geeigneter Fälle nicht im
Sinne eines vorgegebenen Untersuchungs-"Plans" von vorneherein
festlegen. Wir kennen ja bei Beginn unserer Suche nach Alltagstheorien
genau diese Theorien noch nicht. Wir legen keine theoretisch begründete
Auswahl von Fällen vorab fest, um genau die Begründungstheorie
zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern wir versuchen aus den Aussagen
unserer Interviewpartner/innen rekonstruktiv deren Alltagstheorien zu generieren.
Die Auswahl der Replikationsfälle müssen wir also abhängig
vom Stand unserer Interpretations-/Rekonstruktionsleistungen im wörtlichen
Sinn "von Fall zu Fall" festlegen.
(4) Strategie der Typenbildung
Sind wir mit der Analyse unserer Fälle so weit, daß wir bestimmte
subjektive Wahrnehmungs- oder Handlungsmuster und korrespondierende subjektive
Deutungs- oder Erklärungsmuster erkennen, können wir das ständige
Vergleichen der Fälle auf einem abstrakteren, generelleren Niveau
wiederholen. Wir greifen dazu kritische Muster sowie Person- und/oder Kontextbedingungen
heraus und versuchen Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen unseren
Fällen zu entdecken. Das Ergebnis kann eine generelle Typologie von
Fällen sein.
Diese verallgemeinernde Art des "ständigen Vergleichens"
fordert eine spezifische Vergleichsperspektive, eine Herangehensweise,
bei der die erkannten Teile nicht den Blick auf das Ganze behindern, sondern
bei der man Fälle, "Ganze als Konfigurationen von Teilen vergleicht"
(Ragin, 1987, S.84). Die Methode, die Ragin dafür empfiehlt, ist die
Boolesche Methode des qualitativen Vergleichens
- benannt nach dem
Mathematiker George Boole, der die zentralen Techniken dafür erfunden
hat.
Wir sprachen davon, daß man mit diesem Vergleichsprozeß auf
eine höhrer Ebene der Verallgemeinerung vorstößt; er kann
daher nicht ohne irgend eine Form der Reduk-
tion der vorliegenden Befunde durchgeführt werden. Die Teile, auf
die sich Ragin bezieht, können als Elemente der Interviews verstanden
werden, die Forscher/innen als "Bedingungen" ansehen, d.h. in
denen sie eine Voraussetzung für ein "Ergebnis" vermuten,
an dem sie interessiert sind. Auftreten oder Fehlen eines Elements bei
einem gegebenen Fall wird auf die dichotomen (Wahrheits-)Werte "1"
(vorhanden) und "0" ( nicht vorhanden) reduziert.
Unter den Kategorien, auf die 106 Interviews zur beruflichen Sozialisation
von Anfängern im Lehramt interpretativ reduziert worden waren, wählte
Marcelo (1991) sechs aufgrund seiner Interpretation als besonders signifikant
für seine Fragestellung (berufliche Probleme; Möglichkeiten der
Fort- und Weiterbildung) aus:
Da in den Interviews sehr häufig (178-mal!) Disziplinprobleme angesprochen
worden waren, interessierte Marcelo sich besonders für die Bedingungskonfigurationen
des Merkmals "D". Die logische Minimierung ergab drei Gruppen
von Bedingungskonfigurationen, die mit D als Kriterium einhergehen.
D: ABC + ACEF + abcef
Die Interpretation dieser Zusammenfassungen ist aufschlußreich für
das Verständnis der Probleme der Lehrer; als Typologie der beruflichen
Befindlichkeit junger Lehrer müßte sie auch in Aus- und Fortbildung
der Lehrer berücksichtigt werden.
Konfiguration abcef : Schließlich ist eine dritte Gruppe von Lehrern auszumachen, die sich außer mit Disziplinfragen mit den anderen als signifikant ausgewählten Bereichen nur wenig beschäftigen.
Angenommen wir vermuten, daß es drei "Bedingungen" (A,
B und C) gibt, die das "Ergebnis" X bewirken. Sind alle drei
für das Ergebnis verantwortlich? Kann es auch zu dem Ergebnis kommen,
wenn keine von diesen Bedingungen gegenwärtig ist? Vielleicht ist
es die Kombination von AB, BC oder AC, die zum Ergebnis X führt? Tut
sie das in allen Fällen? Ist es beispielsweise notwendig, daß
B fehlt, damit X auftritt? Um solche Fragen zu beantworten, würden
wir Tabellen konstruieren, in welche wir alle theoretisch möglichen
Bedingungskombinationen (als 0 oder 1) eintragen, jeweils eine Kombination
pro Zeile (Boole nennt dies eine "Wahrheitstabelle"). Dann würden
wir unsere Daten überprüfen und als erstes notieren, welche Kombination
(in der wir Vorhandensein und Nichtvorhandensein berücksichtigen)
in jedem einzelnen Fall vorliegt und gleichzeitig überprüfen,
ob das Ergebnis X ebenfalls auftritt. Allmählich stellen wir so die
unterschiedlichsten Kombinationen fest und notieren zusätzlich die
Häufigkeit ihres Auftretens. Einige Bedingungskombinationen treten
im "wirklichen Leben", wie es in unseren Daten repräsentiert
ist, überaupt nicht auf. Wir würden dann dafür ein "?"
in die Spalte eintragen, die für das Auftreten von X vorgesehen ist.
Der nächste Schritt wäre, in den Tabellen zu überprüfen,
welche verschiedenen Bedingungskombinationen mit dem Ergebnis X verbunden
sind. Dies geschieht mit Hilfe einer algebraischen Methode, der "logischen
Minimierung" nach Boole, die eigentlich ganz einfach ist, aber ziemliche
Konzentration verlangt. Als Ergebnis dieses Prozesses erhalten wir eine
(oder verschiedene) Bedingungskonstellation(en), die fest mit dem Ergebnis
X verbunden ist (sind). Diese können wir dann auch als Ursache dafür
ansehen.
Ein Beispiel konkreter Forschung soll dieses Verfahren und seine Bedeutsamkeit
illustrieren. In einer Interviewstudie zur beruflichen Sozialisation von
Anfängern im Lehramt hat Marcelo (1991) die Möglichkeiten der
logischen Minimierung zur Identifikation bestimmter Gruppen von Lehrern
benutzt. Im Hinblick auf ein bestimmtes Kriterium (Disziplinschwierigkeiten
im Unterricht) liefert die logische Minimierung Hinweise auf drei Typen
von Berufsanfängern, die unterschiedliche Schwerpunkte der Fort- und
Weiterbildung notwendig erscheinen lassen (s. Kasten).
Abschließend und teilweise in eigener Sache sei darauf hingewiesen,
daß diese Art ständigen Vergleichens zwischen Fällen ohne
Computerunterstützung und geeignete Software kaum zu realisieren ist.
Für die Generalisierung durch Typenbildung stehen meines Wissens im
Augenblick zwei Programme zur Verfügung. QCA (Qualitative Comparative
Analysis) von Drass & Ragin (1991) ist darauf spezialisiert, Fälle
als Konfiguration von Bedingungen darzustellen und kritische Bedingungskonfigurationen
mit Hilfe logischer Minimierung zu ermitteln. Das Program AQUAD Five (Analyse
qualitativer Daten; Version 5.14) von Huber (1997) ist generell zur Unterstützung
interpretetiv-qualitativer Analysen angelegt und bietet in einer seiner
Komponenten zusätzlich die Möglichkeit, Fälle auf die oben
beschriebenen Wahrheitswerte zu reduzieren und mit logischer Minimierung
nach typischen Bedingungskonstellationen zu suchen.
Literatur
Denzin, N. K. (1989).
Interpretative interactionism
. Applied
Social Research Methods Series, Vol. 16. Newbury Park: Sage.
Doyle, W. & Ponder, G. A. (1977-78). The practicality ethic in teacher
decision-making.
Interchange, 8
, 1-12.
Drass, , K., & Ragin, C. C. (1991).
QCA: Qualitative comparative
analysis
. Evanston: Center for Urban Affairs and Policy Research, Northwestern
University.
Glaser, B. G. (1992).
Basics of grounded theory analysis
. Mill Valley:
Sociology Press.
Herrmann,Th. (1979).
Psychologie als Problem
. Stuttgart: Klett-
Cotta.
Huber, G. L. (1997).
AQUAD Five. Software for the analysis of qualitative
data
. Schwangau: Verlag Ingeborg Huber.
Huber, G. L., & Mandl, H. (1994). Verbalisationsmethoden zur Erfassung
von Kognitionen im Handlungszusammenhang. In G. L. Huber & H. Mandl
(Hrsg.),
Verbale Daten
(2. Aufl.)(S. 11-42). Weinheim: Psychologie
Verlags Union.
Lechler, P. (1994). Kommunikativie Validierung. In G. L. Huber & H.
Mandl (Hrsg.),
Verbale Daten
(2. Aufl.)(S. 243-258). Weinheim: Psychologie
Verlags Union.
Marcelo García, C. (1991).
El primer año de enseñanza
Sevilla: Grupo de Investigación Didáctica de la Universidad
de Sevilla.
Ragin, C. C. (1987).
The comparative method. Moving beyond qualitative
and quantitative strategies
. Berkeley: University of California Press.
Stake, R. E. (1978). The case-study method of social inquiry.
Educational
Researcher, 7
, 5-8.
Stake, R. E. (1988). Case study methods in educational research: Seeking
sweet water. In R. M. Jaeger (ed.),
Complementary methods for research
in education
(pp. 253-265). Washington, D.C.: American Psychological
Association.
Volkamer, M. (1996). Schulsport, Vereinssport - zwei völlig unterschiedliche
Dinge?
sportunterricht, 45
(H. 1), 9-19.
Wahl, D. (1994). Handlungsvalidierung. In G. L. Huber & H. Mandl (Hrsg.),
Verbale Daten
(2. Aufl.)(S. 259-274). Weinheim: Psychologie Verlags
Union.
Yin, R. K. (1989).
Case study research. Design and methods
. Applied
Social Research Methods Series, Vol. 5 (revised ed.). Newbury Park: Sage.
1) Vortrag auf dem Konstanzer Workshop (29.-30. 05. 1997) "Alltag, Alltagsbewußtsein und Handlungsorientierungen von Schülerinnen und Schülern im Sportunterricht" am 29.05.97